Geneigter Leser,
ich bin aufs höchste beunruhigt! Beunruhigt, wie derzeit von der Politik mit Bürgern und deren erklärten Wählerwillen verfahren wird. Die Angriffe des Staats auf unbequeme Meinungsäußerungen werden immer ungehemmter. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieser Staat mehr und mehr die Kontrolle über die Meinungsbildung erlangen will. Regierungsmitglieder drohen Bürgern vorsorglich schon einmal mit einem »starkem Staat«, der (so kommt es vielen vor) inzwischen mit Kanonen auf Spatzen schießt. Ungeniert werden Versprechen gebrochen und in wie Taschenspielertrickserei anmutenden Verfahren wird das Grundgesetz geändert. Völlig legal – aber auch legitim? Die Demokratie wird angeblich gefördert, indem man willfährigen NGOs Aufgaben überträgt, die ihnen nicht zukommen. Das alles muss einem Angst machen. Oder besser gesagt: soll?
In den Siebzigern gab es in der ARD die Sendereihe »Sterns Stunde – Bemerkungen über …« (den Rothirsch, das Pferd und so weiter). In Erinnerung und Anlehnung an den großartigen und unerschrockenen Journalisten Horst Stern, angesichts des derzeitigen Vertrauensverlusts der Politik in großen Teilen der Gesellschaft, hier meine »Bemerkungen über Wahrheit und Wahrhaftigkeit«.
Wahrheit, Wahrhaftigkeit – wo findet man die beiden? Treten sie im Singular auf oder in der Mehrzahl? Gibt es sie wohlfeil in Gebinden, in verschiedenen Größen oder in homöopathischen Dosen – so wie »ein bisschen Frieden«?
»Die Wahrheit is‘ auf’m Platz«, meinen Fußballexperten. Dort jedoch dauert es oft nur wenige Minuten, schon reklamieren die einen: »Klarer Elfer!«, während die anderen behaupten, dass eindeutig der Ball gespielt wurde … ja, gut, auch ein bisschen Schienbein. Und derweil sich alle um das Recht auf »ihre« Wahrheit streiten, gibt der Schiri Abseits.
Es gibt die Wahrheit zur Unzeit, etwa wenn Galileo Galilei behauptete, die Erde bewege sich um die Sonne und nicht umgekehrt. Die Kirche hingegen war anderer Ansicht, sie hatte in dieser Frage die Deutungshoheit – der Glaube herrschte noch über den Verstand. Bevor ihm deswegen Feuer unter seinem Allerwertesten gemacht wurde, ließ Galilei die Erde in Gottes Namen und wider besseres Wissen das Zentrum des Universums sein. »Und sie bewegt sich doch!«, sollen der Legende nach seine letzten Worte gewesen sein. Nein, hatte er laut Überlieferung das letzte Wort in der Angelegenheit – so ist’s richtig. Ob scheitern sich von Scheiterhaufen ableitet, ist nicht überliefert.
Halbe Wahrheiten, sagt man, sind die schlimmste Form der Lüge. Wobei man sagen muss, dass Unwahrheit nicht gleich Lüge ist. Zu Zeiten der selig Bonner Republik kassierte man im Bundestag schon mal Ordnungsrufe, wenn man politische Gegner der Lüge zeihte (ja, den Ausdruck gibt es tatsächlich). »Lüge« sei unparlamentarisch! Das Gegenteil von Wahrheit kann Lüge sein, muss aber nicht. Lügen tut nämlich nur, wer bewusst die Unwahrheit sagt. Macht man das unbewusst, ist man lediglich dämlich. Aber das ist nicht justiziabel. Wahrhaft ein Glück für Politiker. Obwohl, die sind sowieso immun.
Und wie ist es hierzulande um die Wahrhaftigkeit bestellt? Täuscht ein Verkäufer beispielsweise über wesentliche Eigenschaften einer Ware, spricht man von arglistiger Täuschung, nicht etwa von »moderner Verkaufspolitik«. Anders verhält es sich bei nicht eingehaltenen Wahlversprechen – das sei »moderne Politik«, so der Ministerpräsident von Thüringen, Mario Voigt, in einem Fernsehinterview. Wer sich als CDU-Wähler auf so ein Versprechen verlassen hatte, der ist … wie umschreibt man das schmerzfrei-sinnverdrehend in Orwell-Neusprech? Hm – wer ein gestörtes Verhalten aufweist, ist verhaltensoriginell. Demnach wäre, wer alle vier Jahre Politikern das Vertrauen schenkt, vertrauensoriginell? Ich weiß nicht.
Jede Frage wirft unweigerlich eine neue auf: Kann man Politikern überhaupt vertrauen? Karl Lauterbach – sie erinnern sich, der mit den Corona-Papers – meinte zu dem Thema, die Wahrheit sei der politische Tod! Sind Politiker deshalb zur Lüge verdammt? Darf man Wählern überhaupt die Wahrheit zumuten? Sagen Politiker uns, was sie wissen oder wollen sie uns schonen? Schließlich waren wir schon aufs Höchste irritiert, als man uns in der Hochzeitsnacht offenbarte, dass der Klapperstorch nicht die Kinder bringt. Lauterbachs Geständnis erinnert mich an einen Hollywood-Dialog: »Woran erkennt man, dass ein Politiker lügt?« …[Pause]… »Seine Lippen bewegen sich!«
Beim Thema Wahrheit und Wahrhaftigkeit böten sich nun weitere Nachfragen an: zu Moral, zu Anstand. Aber ernsthaft – Anstand, Moral? In der Politik? Echt jetzt? Soviel Wahrhaftigkeit verträgt man dann doch nicht …